
Spastik
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Selektive dorsale Rhizotomie – eine lebensverändernde Operation
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In Deutschland werden jährlich ca. 700.000 Kinder geboren. 1.400 dieser Kinder erleiden eine frühkindliche Hirnschädigung (Infantile Zerebralparese) – oft ohne Einschränkung der Intelligenz – mit einer lebenslangen Bewegungsstörung. Am häufigsten ist die Erhöhung der Muskelspannung, die sogenannte Spastik. Bei 400 bis 500 Kindern sind die Beine besonders betroffen. Zurzeit leben in Deutschland zwischen 7.000 und 8.000 von dieser speziellen Problematik betroffene Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
Symptome
- schwere Gangstörung
- Der Oberschenkel ist angewinkelt, gebeugt und nach innen gedreht.
- Das Sprunggelenk und der Fuß stehen meist in Spitzfußstellung ("Zehenspitzengang").
- Die Wirbelsäule entwickelt oft eine hochgradige Verkrümmung (Skoliose).
- Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen, Sprachstörungen und Muskelzittern (Tremor) sind möglich.
In Folge der Bewegungsstörungen stürzen die Kinder häufig. Sie sind oft auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen. Epileptische Anfälle, Hör- und Sprachstörungen können die Teilnahme am sozialen Leben beeinträchtigen. Sowohl die körperlichen Einschränkungen als auch die kognitiven Einschränkungen können die Selbstständigkeit und die Bewältigung des Alltags, besonders der Schule, erschweren.
Für Kinder und Jugendliche mit infantiler Zerebralparese, die sich an das Sozialpädiatrische Zentrum der Charité wenden, bietet der Selbstständige Arbeitsbereich Pädiatrische Neurochirurgie erstmals in Deutschland eine Operation an, die zu einer bisher nicht erreichbaren dauerhaften Verbesserung führt.
In der Pädiatrischen Neurochirurgie der Charité Berlin wird die Technik der uni-segmentalen, mikroskopischen selektiven dorsalen Rhizotomie seit 2008 angewendet. Mit einer Erfahrung von mehr als 150 Rhizotomien wird diese Operation aktuell durch Herrn PD Dr. med Matthias Schulz und Herrn Prof. Dr. med. Ulrich-Wilhelm Thomale durchgeführt. Ihr Erfolg geht weit über die bisherigen Möglichkeiten der bisher durchgeführten Kombination aus konservativer Behandlung und orthopädischen Eingriffen hinaus:
- Sie verbessert das Steh- und Gehvermögen wesentlich.
- Sie reduziert die durch die Spastik ausgelösten Schmerzen in den großen Gelenken. Frühzeitig durchgeführt kann sie die Anzahl der später notwendigen orthopädischen Korrekturen reduzieren.
- Obwohl am Rückenmark durchgeführt, kann sie bei Durchführung im frühen Kindesalter zu einer sekundären Verbesserung des Sprachvermögens, der Tiefensensibilität sowie der Kontrolle des Oberkörpers und der Handfunktion beitragen.
Die Operation
Die selektive dorsale Rhizotomie (SDR) ist ein mikrochirurgischer Eingriff.
Im Gegensatz zu allen bisherigen operativen Ansätzen kommt sie mit einem minimalen Zugang zur Wirbelsäule über einen ca. 5 cm langen Schnitt aus. Nach Erreichen des Wirbelkanales wird die Dura mater, die gemeinsame Hülle der Nervenwurzeln und des Rückenmarkes, eröffnet. Nun blickt man auf den Ursprung aller in die untere Körperhälfte ziehenden Nerven am Rückenmark.
Die für die Übertragung der Spastik verantwortlichen Anteile der Nervenwurzeln werden nun durch kleine Kunststofffolien isoliert. Ihre Funktion wird mit Hilfe kleiner elektrischer Impulse gemessen. Das Antwortsignal wird gemäß den definierten Kriterien von der verantwortlichen Spezialistin für intraoperatives Neuromonitoring, Frau Dr. rer. medic. Simone Wolter bewertet. Auf dem Boden dieser Wertung unterbricht der Chirurg unter dem Mikroskop alle besonders viele spastische Impulse übertragenden Fasern und schont die weniger betroffenen Fasern, um die Funktionsfähigkeit aller Wurzeln aufrechtzuerhalten.
Da bis zu 60 Messungen notwendig sind kann der Eingriff mehrere Stunden dauern. Danach wird die Dura genäht und die Wunde schichtweise verschlossen. Die Haut wird mit einem selbstauflösenden Faden kosmetisch genäht.
Risiken
Jeder mehrstündige Eingriff bei einem Kind beinhaltet sowohl Narkose- als auch Operationsrisiken. Insgesamt ist die Gefahr jedoch gering. Vor einer Operation werden alle Risiken ausführlich mit den Eltern und dem Kind besprochen.
Nach der Operation
Nach der Operation wird das Kind mit einem Blasenkatheter und einem Infusionssystem für 24 Stunden auf eine Überwachungsstation verlegt. Es wird dort Medikamente gegen die Schmerzen und zur Entspannung der Muskulatur erhalten. Danach wird der Katheter entfernt und das Kind auf seine Aufnahmestation zurückverlegt.
Nach 2 Tagen strikter Bettruhe kann ein erster assistierter Sitzversuch im Rollstuhl für ca. 1 Stunde erfolgen. Danach beginnt milde Physiotherapie. Die Entlassung erfolgt wenige Tage später.
Nachts kann der Schlaf durch Muskelzuckungen gestört werden. In diesem Fall kann abends ein Muskelrelaxans gegeben werden.
Das Rhizotomie-Programm
Die Rhizotomie ist nicht nur eine Operation – sie ist ein Programm. Auswahl und Vorbereitung der Patienten, Narkoseführung und Schmerztherapie, die kinderärztliche körperliche und psychologische Betreuung, die Anpassung von Gehhilfen, und die Überleitung in den außerklinischen Alltag erfordern ein interdisziplinäres Team von Spezialisten. Dieses Team hat sich unter Federführung unserer Neuropädiater am Sozialpädiatrischen Zentrums an der Charité formiert.
Rehabilitation
Spastik schränkt die willkürliche Bewegung der Beine ein und erschwert so die Kräftigung der Beinmuskulatur. Die Beine werden also nicht nur steif – sie bleiben auch schwach. Mit dem Verschwinden der Spastik empfindet der Patient die vorbestehende Beinschwäche zunächst besonders stark, denn der durch die Operation erstmals mögliche Muskelaufbau braucht Zeit. Es kann einige Wochen oder Monate dauern, bis das Kind die frühere Gehfähigkeit – jetzt mit wesentlich reduzierter Spastik – wiedererlangt hat. Danach wird es zu der erwarteten, darüber hinausgehenden Besserung kommen: Ein flüssigere Gang mit längeren Schritten ist möglich.
Für den raschen und gezielten Wiederaufbau komplexer Bewegungsabläufe und das gleichzeitige Training zerebraler Leistungen (Sprache, Konzentration) empfiehlt sich ein Rehabilitationsaufenthalt an einer spezialisierten Klinik.
Literatur
- A. Ferrari, G. Cioni: Infantile Cerebralparese – Spontaner Verlauf und Orientierungshilfen für die Rehabilitation.
- R. Holtz: Therapiehilfen und Alltagshilfen für zerebralparetische Kinder.
- B. Bobath, K. Bobath: Die motorische Entwicklung bei Zerebralparesen.
- R. Feldkamp, D. van Aufschnaiter, J. U. Baumann: Krankengymnastische Behandlung der Infantilen Zerebralparese.
- M. Feldkamp: Das zerebralparetische Kind. Konzepte therapeutischer Förderung.
- F. Heinen (Hrsg.): Botulinumtoxin bei Kindern mit Cerebralparese.
- Therapieverfahren bei infantilen Cerebralparesen (Materialsammlung) Bezugsadresse.
- F. Miller, S. J. Bachrach: Cerebral Palsy: A Complete Guide for Caregiving. For family members and health care professionals.
Baclofenpumpe
Bei einer Tetraspatik (Spastik aller vier Extremitäten) ist die Behandlung zur Muskelentspannung in erster Linie medikamentös möglich. Verschiedene Medikamente stehen zur Verfügung, um entweder direkt in den Muskel gegeben zu werden oder als Tabletten eingenommen werden können. Dies kann entweder in der Wirkung nicht ausreichend sein oder es kommt zu systemischen Nebenwirkungen. Für diesen Fall stehen Medikamentenpumpen zur Verfügung.
Die Baclofenpumpe ist eine Medikamentenpumpe, welche eine muskelrelaxierende Substanz in den Rückemarkskanal geben kann. Die Dosierung und Infusionsrate kann hierbei variabel reguliert werden. Durch die Gabe des Medikamentes in die direkte Umgebung des Nervengewebes, ist es möglich, die muskelrealisierenden Wirkung zu verbessern und die systemischen Nebenwirkungen zu vermindern. Die Baclofenpumpe muss in einer Operation implantiert werden. Die Betreuung der Patienten erfolgt in Kooperation mit dem Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité.